„The challenged generation“
Ein Kommentar von Tim Neuhäuser, Abiturient 2021
Früh morgens, der Wecker reißt mich aus dem Schlaf, ich frühstücke und mache mich auf zur Schule… aus der Küche, die Treppe hoch, in mein Zimmer… da bin ich! Jetzt fehlt nur noch, dass der PC mir einen guten Morgen wünscht. Es wirkt immer noch wie ein schlechter Film. War es anfangs fast schon etwas aufregend, erschlägt die Monotonie des Alltags einen im zweiten Lockdown nun umso mehr. Nie hätte ich gedacht, es einmal zu vermissen, vor Schulbeginn draußen in der Kälte zu bibbern, von Lehrern wegen des Handys ermahnt zu werden oder mich unzählige Runden um den Sportplatz jagen zu lassen…
Lichtblicke im Chaos:
Ich mache dieses Jahr mein Abitur. Auch für mich ist der Lockdown beschwerlich. Neben allem Schlechten sei aber auch das Positive betont. Das Lehrerkollegium des Gymnasiums Herkenrath, welches ich besuche, z.B. hat bisher einen wirklich soliden, guten Job gemacht. Zugegebenermaßen gab es im ersten Lockdown, der jeden völlig unvorbereitet getroffen hat, auch bei uns noch Startschwierigkeiten, doch mittlerweile läuft das Homeschooling sehr geregelt. War es am Anfang noch ein großes Durcheinander mit den Online-Plattformen, so läuft nun alles gebündelt über das Programm „Teams“ ab, welches störungsfrei funktioniert und gute Hilfestellungen zur Eigenorganisation bietet. An vielen Schulen hat sich dieses Programm schon bewährt. Direkt nach dem ersten Lockdown wurden bei uns Maßnahmen getroffen, um für die Eventualität erneuter Schulschließungen gewappnet zu sein. Lehrgänge für Teams wurden durchgeführt sowie für Optimierungen Feedback aus Eltern- und Schülerschaft eingeholt. Die allermeisten Lehrer probieren, unsere Ängste zu schmälern und uns bestmöglich vorzubereiten. Ja, es gibt auch einige, die unangemessen viele Aufgaben stellen. Leider auch nicht gerade wenige. Denen, die innerhalb des Bildungssystems arbeiten, kann man eh nur schlecht einen Vorwurf machen. Schulen reagieren nur auf die sich täglich ändernden Weisungen, die dann unverzüglich umgesetzt sein müssen, ohne dass benötigte Infrastrukturen vorhanden oder adäquate Vorbereitungen getroffen sind. Viel zu oft muss improvisiert werden. Jenen hingegen, die das Bildungssystem lenken, sind große Versäumnisse anzumarkern…
Rückkehr der Abschlussklassen?!
Die Schulen, an denen das E-Learning gut läuft, sind erfreuliche Einzelfälle. Flächendeckend kann keine Rede von einer auch nur halbwegs zufriedenstellenden Situation sein. Und selbst wenn der Online-„Unterricht“ störungsfrei verläuft, so ist er schlichtweg nicht vergleichbar mit Präsenzunterricht. Die gesundheitliche Lage hat sich auch wegen der neusten Virus-Mutationen zugespitzt. Dass Schulen nicht in den Regelbetrieb zurückkehren, ist absolut vernünftig. Doch was spricht gegen die so dringend notwendige Rückkehr der Abschlussjahrgänge, wenn man die Kurse teilen, den Unterricht im Wechselbetrieb abhalten und auch in den Klassenräumen wieder die 1,5 Meter Abstand einhalten würde, wie nach dem ersten Lockdown? Schon, wenn man erstmal nur die Leistungskurse so unterrichten würde, wäre uns Abiturienten ein Stück geholfen. Es würde uns zudem zeigen, dass man unsere Situation ernst nimmt, verbessern und dazu geeignete Wege finden möchte. Alle fürs Abitur weniger relevanten Fächer könnten weiterhin online laufen. Daher ist der Beschluss, dass auch Abschlussjahrgänge bis zum 12. Februar zuhause bleiben, für viele von uns momentan nicht nachvollziehbar.
Normal- oder Durchschnittsabitur?!
Es ist etwas befremdlich, dass die ein Durchschnittsabitur fordernden Stimmen im vergangenen Schuljahr viel ernster genommen wurden, als derzeit. Jene Abiturienten hatten im Gegensatz zu uns jetzigen vor dem Shutdown fast alle Inhalte behandelt. Wir hingegen bekamen ganze Themenblöcke ausschließlich im Fernunterricht vermittelt.
Die Politik muss den Schülern daher beim Abitur und den anderen Schulabschlüssen entgegenkommen. Ein Durchschnittsabitur kann natürlich keine Option sein! Ein minderwertiges Abitur möchte niemand. Die Prüfungen bis auf kleine Änderungen unverändert abhalten und immer weiter nach hinten verschieben zu wollen, wird der Problematik aber andererseits auch nicht gerecht: Wichtig ist, dass wir Abiklausuren schreiben! Dies bedeutet aber nicht, dass man nicht Kürzungen im Umfang und abgefragten Stoff umsetzen sollte. Die LK-Klausuren müssen regulär geschrieben werden, damit die Qualität des Abiturs nicht gefährdet wird. Beim dritten Abiturfach hingegen sollte man Abstriche machen. So wäre es doch denkbar, den zeitlichen Umfang zu kürzen. Die Schüler sollten dann am Ende zwischen Klausuren wählen können, die der Fachlehrer aus einem großen Kompendium ausgewählt hat. Sie wissen am besten, welche Inhalte gut vermittelt werden konnten. Das vierte, mündliche Prüfungsfach sollte nur freiwillig geprüft und im Zweifel durch eine Durchschnittsnote ersetzt werden. Da in den Fremdsprachen das Sprechen viel zu kurz gekommen ist, wäre es zudem nur fair, hier die Möglichkeit zu schaffen auch schriftlich geprüft zu werden.
Letztlich entscheidet die Politik. Dennoch sollte man uns mehr hören. Dann hätte man schon längst verstanden, dass wir Schüler überhaupt keinen Wunsch nach einem „geschenkten“ Abitur verspüren, sehr wohl aber nach einem fairen! Insgesamt müssen ernsthafte Debatten folgen, welche Lehren wir aus der gegenwärtigen Situation ziehen.
Ungleiche Chancengleichheit?!
Ich habe riesiges Glück: Zuhause habe ich einen guten Internetanschluss, meinen Computer und ein eigenes Zimmer. Indem der Staat dies offensichtlich voraussetzt und jenen, die technisch nicht so gut ausgestattet sind, wenig bis gar keine Hilfestellung leistet, lässt er sozialer Ungerechtigkeit Raum und legt die Chancengleichheit ad acta. Als Oberstufenschüler weiß ich mir zudem selbstständig neuen Unterrichtsstoff anzueignen und mich eigenverantwortlich zu organisieren. Als Fünftklässler kann man das nicht. Untere Jahrgangsstufen brauchen viel mehr Unterstützung als ältere Schüler. Bei ihnen fehlen die Grundlagen. Wenn diese nun weitgehend liegen bleiben, so fehlt die Basis für neue Inhalte und das bedeutet automatisch langfristigen Nachholbedarf.
Systemische Fehler
Eines tritt nunmehr deutlicher zum Vorschein als bisher: die systemischen Fehler unseres Bildungswesens. Es wurde versäumt, mehr für die Bildung zu tun und zu investieren. Keiner bestimmten Regierung, sondern allen Kabinetten der letzten Jahrzehnte muss ganz klar ein Unwille oder Unvermögen aktiv neue und innovative Wege in der Bildung einzuschlagen, vorgeworfen werden. Angefangen bei der unzureichenden Internetabdeckung, der zu geringen Anzahl an digitalen Endgeräten bis hin zum katastrophalen Zustand der Schulgebäude. Viele Lehrer sind im Digitalen nicht ausreichend ausgebildet und auch der Lehrermangel bleibt ein Problem. Der Frust über das Bildungssystem ist groß. Wir alle reden in der Öffentlichkeit seit Jahren über die Probleme – viel passiert, ist nicht. Die Staatsverschuldung hat weltweit neue Dimensionen erreicht. Dies mag in Maßen auch nötig gewesen sein. Doch für die Bildung wird kein Geld locker gemacht, obwohl man in den Sommerferien in einem großangelegten Programm die digitale Infrastruktur so doch hätte nachrüstet können?! Was hindert die Politik daran, unsere Bildung zu fördern? Das Geld – so der gängigste Einwand.
Zu geringe Priorität der Bildung?!
Dieses Argument allein kann keinen Bestand haben. Denn erstens sind kurzfristig teure Digitalisierungsmaßnahmen oft verbunden mit langfristig enormen Einsparungen. Und zweitens darf man Bildung ja nicht als unnötige, zusätzliche Ausgabe betrachten. Vielmehr sollte Bildung als langfristige und die wohl wichtigste Investition gesehen werden. Sie zahlt sich nicht nur für die Schüler aus, sondern auch für die Volkswirtschaft. Wenn Bildung versagt, hat das daher dramatische Folgen. Schätzungen des ifo-Wirtschaftsinstituts zufolge könnte die nun weggefallene Bildung ökonomische Schäden von circa 3,3 Billionen Euro verursachen. Wir verfügen nicht über große Bodenschätze wie etwa Russland. Unsere wertvollsten Ressourcen sind die gut ausgebildeten Menschen, die es der Wirtschaft unseres Landes durch Erfinderreichtum ermöglicht haben, so innovativ und ökonomisch erfolgreich zu sein. Es ist die Bildung, die das Fundament jeder Gesellschaft, die Basis unseres Wohlstandes und die Keimzelle unserer Kultur ist. Für Bildung muss immer Geld bereitstehen. Das, was die Politik hindert, sind fehlender Mut und zu geringe Ambitionen.
„The lost generation“?!
Ich nehme eine immense Verunsicherung in unserer gesamten jungen Generation wahr. Jeder hat mit Blick in die Zukunft Fragezeichen im Kopf. Aber in unserem Alter stellen sich nun mal wichtige Weichen. Umso stärker beeinträchtigt die Bildungssituation unsere mentale Gesundheit. Dass manche uns schon die „lost generation“ nennen, macht es nicht besser.
Eben diese Generation ist in relativ ruhigen Zeiten aufgewachsen. Doch zunehmend offenbart sich, was sie alles zu leisten haben wird. Die Sorgen um die Abschlüsse und vor zukünftiger beruflicher Benachteiligung sind nur ein Teil davon. Man muss gestehen, dass wir im weltweiten Vergleich immer noch privilegiert und verwöhnt sind. Wir leben aber auch in einer Industrienation und sollten diesem Anspruch auch in der Bildung gerecht werden können. Es gibt viel zu tun; nicht nur in der Bildungspolitik, sondern auch beim Engagement für die Demokratie und die europäische Idee, beim Klimaschutz usw.
Ja, wir werden benachteiligt sein im Vergleich zu anderen Generationen! Wir können nur noch Schadensbegrenzung betreiben. Dass wir aber ganz sicher keine „lost generation“ sind, haben wir unlängst bewiesen, indem wir so konsequent die aktuellen Maßnahmen mittragen und täglich das Beste aus der Situation machen. Diese Generation ist weltoffen, politisch engagiert, vielfältig, global vernetzt, kreativ, flexibel und willensstark. Wir sind keine „verlorene“, sondern eine „herausgeforderte Generation“. Und wir werden diese Herausforderungen meistern! Aber nur mit Hilfe der Politik.