Jetzt, Philo, Sophie!
Das Fach Philosophie erfreut sich seit Jahren an unserer Schule einer großen Beliebtheit. Nicht nur die Anzahl der Schüler und Schülerinnen, die das Fach gewählt haben, zeugen davon, sondern auch ihre Fragen, die sie sich stellen sowie ihre vielfältigen Erwartungen.
Neugierde prägt des Öfteren die Motivation der Schüler. Was kann man von so einem offenen Fach erwarten? Die Antworten stehen nicht unbedingt in einem Schulbuch, aber manche werden in folgendem Interviewauszug von Michael Sandel, der Philosophie an der Universität Harvard lehrt, mit Elisabeth von Thadden beantwortet:
Zeit: Gibt es auch solche Fragen, die sich den Philosophen heute nicht mehr stellen, weil sie überholt sind, sich erledigt haben? Oder bleiben die Fragen aktuell?
Sandel: Nun, die stärkeren Kandidaten dafür, dass Fragen sich überholen, kommen aus der Naturforschung. Aristoteles und Platon haben darüber nachgedacht, was die Ziele sind, die der Natur innewohnen – etwas, ob es der Vorsatz des Steins ist, zu Boden zu fallen, um der Erde näher zu sein. Wir neigen nicht mehr dazu, die Natur so zu sehen. Und dennoch: Die Anstrengung der großen antiken Philosophen, der Natur eine Bedeutung abzugewinnen und sie mit der sozialen Welt, die wir Menschen bewohnen, durch Deutung in Zusammenhang zu bringen, ist nicht einfach archaisch (uralt), oder? Die Debatte um den Klimawandel oder den Umweltschutz handelt genau davon. Wir könnten nicht von Umwelt sprechen, wenn wir meinten, dass Natur nur für sich existiert, bedeutsam wird sie durch den Menschen . Die Suche nach einem Leben in und mit der Natur, das man nicht einfach lebt, sondern das Bedeutung hat, bleibt aktuell. […]
Zeit: Wir sind den großen alten Fragen jetzt in unserem Gespräch schon mehrfach begegnet, Sie haben mehrere selbst genannt. Sie sind schon darauf gefasst : Nun möchte ich sie Ihnen direkt stellen. Auch wenn jeder weiß, dass man sie in aller Kürze beantworten kann..
Sandel: Versuchen wir’s.
Zeit: Was ist Glück ?
Sandel: Glück ist eher eine Tätigkeit, eine Art zu leben, als ein Bewusstseinszustand. Glück hat damit zu tun, dass man danach strebt, ein gutes Leben zu führen.
Zeit: Und was ist das gute Leben ?
Sandel: Das gute Leben entfaltet zumindest einige der höheren menschlichen Fähigkeiten, und zwar indem man es gemeinsam mit Freunden und geliebten Menschen lebt. Niemand von uns kann all diese Fähigkeiten entfalten. Aber ich denke besonders an die menschliche Fähigkeit, sich über das Gute und das Gerechte ein Urteil bilden zu können, dann an die Gabe, das Schöne zu schätzen, das sich in der Musik und in den Künsten ausdrückt, und drittens an die menschliche Fertigkeit, staatsbürgerliche Tugenden auszubilden und ein Gemeinwesen gestalten zu können, sich also als Menschen selbst regieren zu können und dem Einzelnen dabei das Wort zu erteilen.
Zeit: Sie sprechen von geliebten Menschen: ist die Liebe ein aussterbendes Gefühl?
Sandel: In meinen Augen ist Liebe nur zum Teil ein Gefühl, sogar nur zu einem kleinen Teil. Sie ist eine Lebensweise, eine Art zu handeln, zu zweit zu sein. Auch: frei zu sein, sich zu binden. Und ob sie ausstirbt? Die Liebe ist zu grundlegend für den Menschen, als dass sie aussterben könnte.
Zeit: Was ist ein freier Mensch?
Sandel: Ein freier Mensch kann aktiv sein eigenes Schicksal gestalten und das Schicksal eines Gemeinwesens, in dem er lebt. Darin denke ich ähnlich wie Hannah Arendt : Freiheit ist eine Art, tätig zu sein. Darin gleicht sie dem Glück und der Liebe.
Zeit: Was ist heute noch Natur?
Sandel: Von Natur im reinen Sinne können wir heute nur noch mit Schwierigkeiten sprechen. Sie ist von uns kaum zu trennen, wir sind mit all unseren Tätigkeiten zu sehr in sie verschlungen. Nicht nur, weil wir sie aufzehren und missbrauchen. Sondern auch, weil wir sie für unser Selbstverständnis so dringend brauchen. Sie ist unser ständiges Gegenüber, unsere Quelle und ein Teil von uns. […]
Dieser Auszug gibt bereits einen hervorragenden Überblick – in diesem Sinne „Jetzt, Philo, Sophie“.
(E. Verroul)